Die Silberschuhe
Die Schulglocke bimmelt und Dave eilt aus dem Schulgebäude. Wieder einmal hat der Lehrer überzogen und will die Stunde nicht pünktlich beenden. Dave checkt noch schnell die Adresse der heutigen Hundeshow und macht sich auf den Weg. “Das ist schnell verdientes Geld. Einfach ein bisschen sauber machen. Mit Hunden kann ich gut umgehen”, denkt er sich.
Am Showplatz angekommen steht Dave vor einem riesigen Aufbau, das einem Zirkuszelt gleicht. Massen an Besuchern stehen geduldig an der Kasse und warten auf den Einlass.
“Oh wow, hier ist ja deutlich mehr los, als ich dachte. Wo kommen die ganzen Menschen her?”, sagt er zu sich selbst.
Er schaut sich nach dem Personaleingang um und findet ein paar Meter hinter der Kasse Jean, die lautstark in ihr Telefon brüllte: “Was soll das heißen, ihr könnt nicht kommen? Ihr MÜSST! Hier ist der Teufel los, und ich hatte bereits Mühe für den ersten Ersatz zu sorgen.” Dave winkt ihr zu, als sie ihr Telefonat beendet. “Na, noch weitere Personalausfälle?” “Puh, man, gut dass du gekommen bist. Es ist zum Heulen! Mir fallen die Leute reihenweise aus, ich weiß gar nicht, wie wir das über die Bühne bekommen sollen. Aber jetzt die Besucher zurück zu schicken ist auch nicht mehr möglich. Du bist heute als einzige Aushilfe also auf dich allein gestellt. Meinst du, du schaffst das?” Jean sieht Dave ein wenig verzweifelt an.
“Klar, ich pack das schon. Sag mir nur, was ich tun soll und los geht’s”. Zwinkert Dave ihr zu.
Jean erklärt ihm die Aufgaben: “Okay pass auf: Das Wichtigste ist, dass die Hunde immer genug zu fressen und zu trinken haben. Die Näpfe müssen immer voll sein. Dann achte darauf, dass das Frisierwerkzeug auf den Bänken der Halter gereinigt und einsatzbereit ist. Und zuletzt musst du schauen, dass der Showplatz nicht zur Hundetoilette wird. Üblicherweise gibt es hier so einige nervöse Tiere, die dann doch mal im Eifer des Gefechts ihre gute Erziehung vergessen. Am besten du bewaffnest dich gleich mit Besen und Schaufel.”
Dave nickt und deckt sich mit allem an Zubehör ein, was für seinen Job nötig ist.
Die ersten Hundehalter treten ein und nehmen auf den Halter-Bänken ihre Plätze ein. Es ist ein bunter und kurioser Mix: kleine Hunde, große Hunde, lange Wildhaarfrisuren, Irokesen, Hunde, die wie Giraffen oder Zebras aussehen. Und ein Hund sollte wohl ein Löwe werden, zumindest wurde ihm eine Art “Mähne” frisiert und der Schwanz entsprechend rasiert. Dave bekommt Mitleid und er sieht, wie die Tiere überhaupt nicht glücklich aussehen. Sie werden von ihren Haltern an die kurze Leine genommen und bekommen ständig “erziehende Worte” zu geblafft. Die Halter untereinander werfen sich giftige Blicke zu, “Konkurrenz wird nicht geduldet” ist die Aussage.
Mit einer Handkarre voll Hundefutter und einem Kanister Wasser im Gepäck macht Dave sich daran die Näpfe der Hunde aufzufüllen. Doch schon als die ersten Schalen mit knusprigem Hundefutter befüllt sind, wird er von der Seite angefaucht: “Hey, was soll das? Sehen Sie nicht, dass mein Fridolin besonderes Futter für sein glänzendes Fell bekommen muss? Er darf nicht so ein “Normalo-Zeug” essen. Das lässt die Haare porös werden! Ich erwarte, dass nur das beste Futter gestellt wird!” Sichtlich verwirrt, ruft es auf einmal vom Nebenstuhl: “Und Sie glauben, Futter kann diesen Heuballen an Frisur noch retten? Schauen Sie sich meine Cassy an! Wir halten eine strikte Diät. Heute gibt es nur Wasser, aber dafür das reinste Wasser aus den besten Quellen des Landes. Die Mineralstoffe sind das Wichtigste.”. “Was erlauben Sie sich?”, empört sich die erste Hundehalterin: “Wie können Sie es wagen meinen Hund einen Heuballen zu nennen? Schauen Sie sich doch mal Ihren Köter an!”.
Gekonnt zieht sich Dave aus dem Geschehen, füllt unbemerkt die Fressnäpfe der Hunde der beiden Streithähne mit ein und dem selben Futter auf und zieht mit seinem Handkarren weiter. “Unglaublich, was für Menschen hier wieder dabei sind. Es ist doch nur eine Show”, denkt er sich.
Der erste Hund wird aufgerufen. Ein großer Golden Retriever mit gelocktem Haar tapst auf die Fläche mit den Podesten, muss erste Kunststückchen vollführen und von der Jury begutachtet werden. Während dieser auf zwei Beinen um kleine Hütchen tänzeln soll, werden die anderen Hunde auf den Plätzen sichtlich unruhig und beginnen zu kläffen.
Dave schnappt sich einen Besen, um die Hinterlassenschaften der etwas nervöseren Tiere zu beseitigen. Aber es scheint, als sei er mit seinem Besen ebenfalls nicht sonderlich beliebt. Kaum nähert er sich damit den Plätzen, ist auch er die Zielscheibe der lauthals bellenden Hunde.
Und da passiert es: einem der größeren vierbeinigen Show-Teilnehmer wird es anscheinend zu bunt und er beginnt wild an seiner Leine zu zerren und sich zu drehen. Die Halterin hat Mühe ihn mit Rufen und Klammern im Zaum zu halten, doch es hilft alles nichts: er entkommt dem Griff der Leine und nimmt reiß aus. Seine Halterin hastet panisch hinterher, doch bei dem Versuch nach ihm zu greifen verheddert sie sich in einem Leinen-Wirrwarr, das sich mittlerweile gebildet hat. Das gibt den anderen Hunden die Möglichkeit das Weite zu suchen. Das Chaos ist perfekt: Die Hunde rennen über den Platz und machen, was sie wollen.
Während der Großteil der Horde quer über den Platz rennt, hat ein kleiner Vierbeiner es direkt auf Dave abgesehen. Mit dem Besen in der Hand kann er sich den kleinen Hund auf Abstand halten, der wie ein Tasmanischer Teufel in die Borsten beißt und angestrengt herum wirbelt. Anscheinend hat er schlechte Erfahrungen mit Besen gemacht und sieht seine Chance auf Rache gekommen.
Abgelenkt vom Kampf mit dem Schoßhund bemerkt Dave aus dem Augenwinkel, wie ein weiterer Hund mit einer Frisierbürste im Maul an ihm vorbei rennt. Und dann noch einer. Dave kommt eine Idee: Da anscheinend die meisten Hunde zuhause eine sehr strenge Erziehung erfahren und das Spielen zu kurz kommt, sehnen sich die Vierbeiner vielleicht einfach nur nach etwas Spaß und Beschäftigung?
Aus seiner Hosentasche zieht Dave eine weitere Bürste, die er sich für einen Frisier-Notfall eingesteckt hatte. Er wedelt damit vor den Augen seines aktuellen Widersachers und dieser beginnt gleich darauf den Besen freizugeben. Er hibbelt aufgeregt hin und her und kann kaum das neue Spielzeug durch seinen geföhnten Pony erkennen. Dave wirft die Bürste im hohen Bogen durch den Platz direkt in Richtung Halterplätze und der kleine Hund schießt hinterher. Kurz bevor die Bürste landet, springt er in die Höhe und fängt sie mit dem Maul noch mitten im Flug auf. Klare 10 von 10, denkt sich Dave.
“Okay, dann wollen wir mal Stöckchen spielen. Wo sind die anderen Bürsten?”. Er blickt zu den Plätzen der Hundehalter und entdeckt einen Tisch mit mehreren Utensilien darauf, die sich prima als Stöckchen-Ersatz eignen. Neben dem Tisch steht eine Frau mit einer parfümierten Hochsteck-Frisur, weiß gefärbt und aufgebauscht, fast wie eine frisch getrimmte Hecke. Ihr Begleiter ist ein auf gleiche Art und Weise drapierter Pudel, bei dem auch kein einziger Fellfetzen übersteht und jede Strähne mit Haarspray befestigt wurde. Allerdings scheint die Leine, an der er hängt, bald nicht mehr allzu sehr befestigt zu sein, denn er zerrt wie wild daran. Dave rennt zum Tisch. Die Pudel-Frau bekommt sichtlich Panik und Dave nutzt die Gelegenheit, um seine neue Idee direkt auszutesten. “Nehmen Sie Ihre schmierigen Finger von meinen Utensilien! Sehen sie nicht, dass ich hier schon genug zu tun habe? Sir von Horstenburg, AUS! Lass die Leine in Ruhe!” keift die Dame erst Dave und dann den Pudel an. “Keine Sorge Ma’am, ich bin vom Fach”, lügt Dave und greift nach einem Kamm. “Hier mein Kleiner, schau mal! Ist das was für dich?” Dave wedelte nun mit dem Kamm direkt vor den Augen des Hundes und sogleich hat er die volle Aufmerksamkeit. Er wirft ihn ein paar Meter in die Höhe und der Pudel springt freudig hinterher. “Wunderbar, funktioniert also. Dann sammeln wir mal ein. Wo sind die anderen?”
Bewaffnet mit verschiedensten Bürsten und Kämmen kümmert sich Dave um einen nach dem anderen und lockt alle Hunde wieder zurück zu deren zugewiesenen Plätzen.
Ganz nebenbei bemerkt er, dass das Publikum um ihn herum immer wieder Applaus liefert. Geht die Show etwa einfach so weiter? Nein, der Applaus gilt nicht den Hunden. Sie gilt ihm und seine Kunststückchen die frei laufenden Hunde wieder einzufangen!
Alle Tiere sind wieder zurück an ihrem Platz und die Show wird endlich wieder fortgesetzt. “Puh, was für eine Aufregung”, denkt sich Dave. “Aber das ist ja nochmal gut gegangen. Jetzt hoffen wir, dass kein weiterer Zwischenfall mehr passiert.” Der nächste Hund wird aufgerufen, doch bevor dieser sich in Bewegung setzt, bedankt er sich noch einmal bei seinem Frauchen, indem er einen großen Haufen auf ihre Schuhe ablässt. Dave prustet los vor Lachen, macht sich aber pflichtbewusst an seine Aufgaben und räumt die Hinterlassenschaft fort.
Am Ende der Show kommt Jean zu ihm: ”Junge junge, was war das denn? Hier ging es ja drunter und drüber! Gut, dass du hier warst, man. Wärst du nicht gewesen und hättest die Hunde wieder eingefangen, dann hätten wir die Show absetzen können. Der Veranstalter meinte zwar, dafür, dass die Hunde alle Bürsten und Kämme zerkaut hätten, soll ich dir das vom Gehalt abziehen, aber weißt du was? Da du echten Einsatz für uns gezeigt hast und uns aus der Patsche helfen konntest, packe ich nochmal persönlich 20€ drauf. Die hast du dir verdient.” “Danke Jean. Das weiß ich wirklich zu schätzen! Und wenn du nochmal Hilfe bei einer Show brauchst, dann weißt du ja, auf welcher Straße du den Eimer voll Leim hinstellen musst, damit ich wieder rein treten kann.”, scherzt Dave und schmunzelt ihr zu.
Am nächsten Tag ist es dann endlich soweit. Gleich nach der Schule rennt Dave mit dem Geld im Gepäck zum Schuhgeschäft. Ohne große Erklärungen bringt die Schuhverkäuferin die Schuhe und schiebt sie über die Ladentheke. Dave bezahlt, verlässt das Geschäft und packt seine Errungenschaft auf der nächsten Parkbank aus. Endlich hält er sie in den Händen. Seine neuen Sneaker. Sie sehen genauso toll aus wie in seinen Träumen. Fast noch ein bisschen besser. Dave hat kleine Freudentränen in den Augenwinkeln. Er zieht seine alten Schuhe aus und schlüpft in die silbernen Schuhe hinein. Doch noch ahnt er nicht, dass er ab sofort nicht mehr alleine ist.