Moe, der Meisenknödel

Die tragische Geschichte eines unscheinbaren Gegenstands. Wird Moe seine Bestimmung finden?

… Und so lag er da, im dunklen Schatten der dichten Tanne, wo kein Licht mehr den Boden berührte. Und auch das letzte Korn wurde aus seinem Körper gepickt.

Was bisher geschah…

Sonne. Brennende heiße Sonne. Moe genießt es, in der Sonne abzuhängen und sich seine Körner gleichmäßig bräunen zu lassen. Es ist wie in einem Backofen, nur mit besserer Aussicht und ein wenig mehr Gesellschaft. Schon seit Tagen hängt er an seinem kleinen Haken am Baum und beobachtet die Gegend. Um ihn herum sind einige Bäume: große, heranwachsende, Laub und Nadelbäume. Es ist eine bunte Mischung, und er findet, sein Platz in dieser Natur hätte nicht besser sein können. Doch es gibt ein Problem: Ihm ist schrecklich langweilig. Durch die heißen Sommertage sind nur wenige Vögel interessiert, ihm einen Besuch abzustatten, denn die Böden sind voll mit krabbelnden Tierchen, die deutlich einladender sind. Von Zeit zu Zeit gesellt sich ein Piepmatz dazu und stöbert ein wenig, aber ehe Moe auch nur “hallo” sagen kann, flattert der neue Besucher auch schon wieder desinteressiert davon.

Die Tage vergehen, das Laub wird bunt und es fällt häufiger der Regen. Moe merkt, wie sein Inhalt immer wieder aufquillt und wieder austrocknet und er schon richtig rissig wird durch den Wechsel der Witterungen.

“Na klasse, da hänge ich hier tagein, tagaus und jetzt werde ich langsam spröde. Warum will niemand an mir knabbern? Ich habe doch die beste Mischung an leckeren Körnern zu bieten! Ich verstehe das nicht.”

Und auf einmal wird es Winter.

Frost, eisiger Wind und Schnee beginnen zu herrschen. Kurze Tage lassen nur wenig Sonne an seine Körner. Moe nimmt die Winde als Möglichkeit, um an seinem kleinen Haken hin und her zu pendeln.

“Vielleicht werde ich so endlich mehr gesehen, wenn ich hier herum wackel. Und eins, und zwei, noch mehr Schwu…”

Moe stoppte sofort. Jemand kommt auf ihn zu. Er schließt die Augen und hofft, dass niemand seine Anstrengungen bemerkt hatte. Neben ihm beginnt erst ein Murmeln, dann werden die Stimmen immer lauter. Er öffnet vorsichtig die Augen und kann nicht glauben, was er sieht: Moe hat Gesellschaft. Links und rechts neben ihm wurden zwei weitere Meisenknödel aufgehängt. Doch nicht nur das. Sie sehen viel praller aus. Ihre Auswahl von Körnern ist besser und vielseitiger und außerdem glänzt ihre Oberfläche regelrecht.

“He-hey Jungs, alles klar? I-Ich bin Moe”, stottert Moe.

“Ihr habt hier den besten Platz gefunden, hier werdet ihr sicher von allen Vögeln gefunden.”

Moe überlegt, was er noch erzählen könnte, um seine neuen Nachbarn besser kennenzulernen. Einer der beiden Knödel blickt hinüber.

“Du meinst, wenn wir so schrumpelig und rissig werden wollen wie du?”

Der andere Knödel gegenüber lacht gehässig: “Mit solchen schäbigen Körnern wirst du nicht mal eine halb-blinde Krähe füttern, pahaha.”

“Wen willst du hier eigentlich beeindrucken, huh? Wie lange hängst du hier schon? Merkst du es nicht, man, du gehörst hier nicht hin. Das ist jetzt unser Gebiet.”

“Genau, verzieh dich am besten, wo du hergekommen bist. Keiner wird sich jemals mehr für deinen Fraß interessieren.”

Moe ist starr vor Angst und Empörung. Was passiert hier gerade? Die ganze Zeit hing er allein und einsam am Baum, und jetzt, wo er die Möglichkeit hat, Anschluss zu finden, wird er ausgegrenzt. Dabei haben sie noch nicht einmal versucht, ihn kennenzulernen. Moe wird ganz bleich. Da kommen auch schon die ersten Vögel. Sie setzen sich neben Moe auf den Ast, schauen abschätzig und knabbern dann an seinen Nachbarn. Zwei Vögel, fünf, zehn… Moe hört auf zu zählen. Er sieht mit an, wie seine gerade erst frisch dazu gekommenen Artgenossen jegliche Aufmerksamkeit innerhalb kürzester Zeit gewonnen haben und er komplett ignoriert wird.

Eine Träne rollt aus seinem Auge. Dann noch eine. Moe weint. Er fühlt sich einsamer denn je.

Der nächste Tag bricht an, doch etwas stimmt nicht. Die Sonne schafft es nicht, sich durch die dicke Wolkendecke zu kämpfen. Es bleibt düster und grau und auch die Vögel bleiben aus. Ein eisiger Wind schneidet durch die Bäume und Moe gerät ins Wanken.

“Jetzt ist es mir auch egal, wenn ich hier wackle, mich beachtet eh niemand… Sollen die Vögel sich doch an den Körnern der anderen satt fressen.”

Doch ob Moe möchte oder nicht, er wackelt immer mehr, hin und her.

“Moment, hey, was soll das? Langsam wird mir das zu wild, mir ist schon ganz schwindelig.”

Immer stärker beginnen die Äste zu wanken. Der Wind wird zu einem aufbrausenden Sturm und reißt am ganzen Baum. Mit markerschütternden knarren beugt sich der Baum unter der Last des Windes. Die Äste strecken sich und Moe kann sich nur mit Mühe festhalten.

“Booob, was passiert hier??” Hört Moe es rufen.

Einer seiner Nachbarn, Bob war also sein Name, wird vom Haken geweht, noch ehe er die Antwort von seinem Freund hört.

“Maurice! Neeeeeein!” Brüllte der andere Knödel gegen den Lärm des Sturmes an.

Doch auch er wurde vom Haken gerissen und Moe hört nur noch aus der Ferne ein leises Platschen. Bob und Maurice wurden in den Teich des Gartens geweht. Mit aller Kraft hält Moe sich an seinem kleinen Haken fest, doch egal wie sehr er sich auch anstrengt, es reicht nicht aus und auch Moe beginnt durch die Luft zu segeln. Die Bilder verschwimmen, während er sich wie ein Kreisel durch die Luft wirbelt.

Dann wird alles schwarz.

“Bob? Ma-Mauriece? Hallo? Hört mich hier jemand?”

Stille.

“I-irgendwer?”

Keine Antwort, nur tiefschwarze Dunkelheit.

“Hier wird mich niemand mehr finden. Es ist so dunkel, ich weiß nicht einmal, wo ich bin. Wie soll mich jetzt noch ein Vogel finden? Ich werde hier für immer vergehen und niemanden mehr füttern können.”

Plötzlich raschelt es ganz in der Nähe.

Dann wieder Stille.

Moe hält den Atem an und starrt in die Dunkelheit.

Dann knackt leise ein Ast, diesmal etwas näher. Angst steigt in ihm hoch. Er war noch nie in kompletter Dunkelheit und weiß nicht, welche Gefahren hier lauern. Dann hört Moe eine leise Stimme.

“wi-wi-wi-wiwww”, es klingt wie ein Wimmern.

“Ha-hallo? Wer ist da?”

Ein Schniefen kommt näher, nein, kein Schniefen, ein… Schnuppern? Etwas oder jemand schnuppert an ihm!

“Hey, was soll das!” Ruft Moe, all seinen letzten Mut zusammen gekratzt.

“Was… bist du? Und… warum… bist du…” sprach die Stimme, doch sie bringt den Satz nicht zu Ende. “… so… hungrig… kalt…”

“Ich bin Moe. Ich gehöre hier nicht her und werde hier vermutlich verenden, hier wird sich niemand mehr für mich interessieren. Dir ist kalt und du bist hungrig, ich sehe schon, wir teilen beide ein schweres Schicksal. Für uns ist jede Hoffnung verloren. Wer bist du?”

“Fr-Fr-Frieda…. Frieda…. Feldmaus” keucht das Wesen neben ihm.

“Hallo Frieda, freut mich, dass wir uns zumindest noch kennenlernen durften. Eine Feldmaus habe ich bisher auch noch nicht kennengelernt. Normalerweise sind meine Gäste Vögel aller Art, welche ich mit meinen leckeren Saaten füttere. Ich bin nämlich ein Meisenknödel”, sagt Moe stolz.

“Moment mal… Ich bin ein MEISENKNÖDEL und du eine FELDMAUS! Feldmäuse fressen doch auch Samen und Saaten! Warum frisst du nicht einfach von mir? Du bist hungrig, und meine Bestimmung ist es, andere Lebewesen zu füttern. Los, bedien dich!”

Frieda tapselt langsam an Moe ran, schnuppert erst kurz und knabbert dann das Netz, welches seinen Inhalt zusammenhält, auf. Dann beginnt sie mit großen Bissen zu fressen und muss sich zurückhalten, sich nicht zu verschlucken, so hungrig ist sie. Nachdem sie ein paar Brocken von Moe gefressen hat, findet sie langsam zu ihrer Energie zurück und beginnt klarer zu reden: “Moe, ich danke dir. Du hast mir mein Leben gerettet. Der Winter brach so plötzlich ein, und dann dieser Sturm! Ich war nicht schnell genug, mich und meine Kinder mit Nahrungsvorräten zu versorgen. Ich hatte große Sorge, dass wir diesen Winter verhungern würden. Und dann kamst du. Moe, darf ich meine Kinder dazu holen, damit auch sie von dir fressen und sich ernähren können? So könnten wir alle diesen Winter überleben”.

“Na klar, sehr gern! Hol sie dazu, ich habe genug für euch alle. Und weißt du, was das Beste ist? Durch diesen dunklen Baum sind wir perfekt geschützt vor den Vögeln, denn sie werden euch nicht finden. Ihr könnt euch ganz in Ruhe die Bäuche voll schlagen.”

Kaum ausgesprochen, huscht Frieda Feldmaus auch schon davon, nur um wenige Momente später mit ihren Kindern wiederzukommen. Sogleich beginnen sie mit dem Fressen. Sie klettern übereinander, links, rechts, können gar nicht genug von Moe bekommen.

Zufrieden merkt Moe, wie er am Ende doch noch seiner Bestimmung gerecht wurde und anderen in der Not helfen konnte.

Und so lag er da, im dunklen Schatten der dichten Tanne, wo kein Licht mehr den Boden berührte. Und auch das letzte Korn wurde aus seinem Körper gepickt.

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